It’s Karma, Baby: Leverkusen – HSV 1:2

Präludium

Meine häusliche Situation ist kaum verändert. Seit einer Woche fließt immerhin wieder das Internet in hemischen Gefilde, auch wenn dies schon schwierig genug war. Aber weiterhin missing in action: digitale Fernsehprogramme aus dem Kabel (inkl. Pay-TV).

Die kommende Woche werde ich hoffentliche erste Infos von der Hausverwaltung bekommen, ob man für mich ein gesonderte Leitung vom Nachbarhaus in meine Wohnung legen kann.

Solange ich immer noch nicht weiß wie es weitergeht, ist allesaussersport weiterhin on hold und um mir möglichst wenig Arbeit zu machen, lasse ich auch die Kommentare noch zu.

Entzug

Seit dem Umzug in die neue Wohnung, kenne ich die Bundesliga nur aus der ARD-Radiokonferenz, was alles andere als Ersatz für das Selberschauen ist. Au contraire, es ist m.E. die am meisten überschätzteste Radiosendung in Deutschland.

Ich bin nicht der einzige der unter diesem Digitalfernseh-Entzug gelitten hat. Etliche Sportvereine, allen voran der HSV, haben in dieser Zeit eine negative Serie hingelegt (Steelers 3 Niederlagen in Folge, Flyers mit schlechtestem Saisonstart seit Äonen, Lidle stirbt den Fliegertod).

An diesem Wochenende, an diesem Sonntag spürte ich es: die Zeit war reif. Ich musste eingreifen. Ich musste wieder zurück. Ich brauchte den Sport und der Sport brauchte mich…

Wo geht es hier zur nächsten Sportsbar?

Die HSV-Krise

Bei der Diskussion der HSV-Krise störte mich die zahlreiche “wohlfeile” Kritik. Natürlich hätte man es rückblickend besser machen können. Aber wenn Management eine Glaskugel hätte, würden sie Lotto spielen.

Um nochmal meine Interpretation zu geben: der HSV hatte sich entschieden Barbarez und Beinlich keinen längeren Vertrag zu geben, da aufgrund des Alters der beiden Spieler zwei Jahre internationale Leistung eher fragwürdig wären. Wer auf Barbarez’ gute Leistung der letzten Saison verweist, vergißt, dass Barbarez in den letzten Jahren enorme Formschwankungen unterlag und einer der Sargnägel für Toppmöller war.

Also, der HSV sagte sich: gut, die beiden alten Spieler können wir ersetzen, denn mit van Buyten, Boulahrouz und van der Vaart hat man eine Achse, die das auffangen müsste.

Doch dann traten zwei Dinge ein, die man bis Juni nicht auf der Rechnung hatte: van Buyten und Boulahrouz hörten die Sirenengesänge anderer Klubs.

Wenn jemand wie Chelsea für Boulahrouz plötzlich freiwillig 12 Mio hinlegt, muss man zuschlagen bevor Abramovich wieder zur Besinnung kommt. Nach dem mutmaßlichen Schmierentheater um Boulahrouz’ Verletzung war er eh nicht zu halten gewesen.

Und van Buyten war auch aus finanziellen Gründen nicht zu halten, allzumal van Buyten bislang in jedem Sommer mit Abwanderung kokettierte.

Beide Spieler waren nicht wirklich willig in Hamburg zu bleiben, für beide wurde viel Geld geboten, also haben sich die Hamburger auf dieses Risiko eingelassen, zumal die Scoutingabteilung adäquaten Spielerersatz auf dem Markt sah. Eine m.E. richtige Entscheidung.

Dass eine derart “entkernte” Truppe einige Wochen Eingewöhnung brauchten, war logisch.

Aber was dann in Sachen Verletzung abging, eine derartige Seuche habe ich schon lange nicht mehr bei einem Bundesligisten gesehen. Spiel für Spiel musste die Mannschaft neu ausgewürfelt werden, Spiele wurden verloren, Spieler verunsichert und die zahlreichen Platzverweise waren nahezu logische Konsequenz.

Vielfach wurde dem HSV vorgeworfen, er hätte doch auch junge Talente ins Feuer schmeißen können… Als ob das Verbrennen von Nachwuchs im Fegefeuer Bundesliga und Champions League Ausdruck besonderer Talentpflege ist… Immerhin hat Thomas Doll in den letzten 15 Spielen oder so, langsam neue Alternativen an den Kader herangeführt, heute aktuell den US-Amerikaner Benny Feilhaber.

Die Krise des HSVs hat für mich mehr mit Seuche als mit strukturellen Problemen zu tun. Erfolgserlebnisse und endlich Konstanz in die Aufstellung reinbringen …

Leverkusen – HSV 1:2

Aufstellung

Womit wir dann bei der HSV-Aufstellung in Leverkusen sind. Die war nämlich arm an notwendigen Kompromissen. Einen völlig deplatzierten Spieler gab es nicht. Bei einem Klingbeil als rechten Außenverteidiger (neben Atouba, Mathijsen und Kompany) kann davon ausgehen, das er seine Aufgaben erledigt: “1. Keinen Bock schießen, 2. Keinen Platzverweis kassieren, 3. Nicht vor der 89ten Minute verletzen“.

Trochowski musste auf rechts spielen und als “Nummer Sechs” trat der 21jährige #33 Benny Feilhaber an, in Abwesenheit der Herren Wicky, De Jong und Demel.

Alle Augen auf van der Vaart. Im Laufe der Serie ohne Siege versuchte Doll Woche für Woche neue Reize zu setzen, jede Woche eine neue Sau durch Dorfs zu jagen. In den Hamburger Medien war die Rückkehr von van der Vaart als “letzter Joker” von Doll bezeichnet worden. Entsprechend kann man sich den Rucksack vorstellen, mit dem van der Vaart ins Spiel gegangen ist. Ohne Vorbereitungsspiele oder Kurzeinsätze, gleich von Null auf Hundert zum Heilsbringer gekürt.

Das Spiel

Der HSV kam erstaunlich locker auf den Platz. Alle lachten, machten Witze.

Aber man merkte dem Spiel an, dass sich 22 kleine Nervenbündel auf dem Platz befanden. So lautstark die HSV-Krise diskutiert wurde, auch Leverkusen blieb mit nur zwei Siegen in sieben Bundesliga-Spielen unter den Ansprüchen.

Das Spiel wurde auf hohem Tempo geführt. Es ging hin und her, nicht zuletzt weil viele Pässe beim Gegner landeten und das Stellungsspiel in der Abwehr viel zuließ.

Beide Mannschaften wechselten sich jeweils mit zehn starken Minuten ab und immer war Atouba im Spiel. In seinen guten Momenten, trieb er den Ball nach vorne und brachte mit seinen Tricks die Zuschauer in der Kneipe zu Standing Ovations.

In seinen schlechten Momenten zu Beginn des Spiels war er nur Bruder Leichtfuß, ehe er kopflos durch die eigene Hälfte rannte, während Leverkusens Offensive auf seinem Flügel Furchen in den Rasen reinrannte. Wer auch immer sich dort aufhielt, konnte gewiß sein, alle Zeit der Welt zu bekommen um sich den HSV auszugucken und dabei sich auch noch einen sauberen Scheitel über den Kopf ziehen. Atouba endete dann als nervöses Nervenbündel, allzeit zu einer Kerze oder einem Querschläger bereit.

Torchancen hüben wie drüben. Zur Halbzeit hätte es auch 2:2 stehen können, aber beide Mannschaften scheiterten an ihren Stürmern, die nur so an Bälle vorbeigrätschten oder freistehend versiebten. Atouba vergab freistehen aus halbrechts nachdem er den Torwart ausgespielt hatte. Barbarez und ein zweiter Leverkusener kamen frei zum Kopf.

Im Grunde genommen ging alles seinen Lauf, alles Seuche beim HSV. Atouba vergab, Ljuboja setzte einen Kopfball an den Innenpfosten, von wo aus er in 98% aller Fälle ins Tor prallt aber nun wieder raussprang. Und im Gegenzug Leverkusen. 40te Spielminute. Wieder so eine Situation in der Schneider auf rechts alle Zeit und allen Platz hat. Er geht rein, verweigert wie gewohnt den direkten Torschuß, macht stattdessen so einen halbgaren Ball, Kirschstein will den Ball runterpfücken, Atouba ist ihm im Weg, Kirschtein kann den Ball nicht halten, Atouba bricht sich beim Versuch den Ball wegzuschießen fast die Füße und Voronin schiebt aus 2m bevor er vor Lachen zusammenbricht. Mit anderen Worten: das gurkigste aller möglichen Gurkentore. Kurz: die Seuche. 1:0 Leverkusen.

Ein Wort zu Kirschstein. Ich bin mir sicher: dies wird seine letzte Saison als Stammtorhüter beim HSV sein und nächsten Sommer tanzt ein Lehmann oder Hildebrand im Hamburger Kasten. So knuffig der Lulatsch aussieht. Er hat keine Präsenz (bei einem Kahn hätte man Atoubas Knochen vom Rasen aufsammeln können) und zahlreiche Aussetzer, wie z.B. der überflüssige Eckball kurz vor Schluß, als er neben dem Tor beim Versuch eine Flanke abzufangen, ins Toraus fällt, zeigen dass er nicht immer auf Höhe des Spielgeschehens ist.

Die zweite Halbzeit war anfangs eine Fortschreibung der ersten. Technisch nicht hochstehend, aber unterhaltsam. Aussetzer hüben, Aussetzer drüben. Die Seuche ging weiter. Ein klares Handspiel zugunsten des HSVs wurde nicht gegeben.

Das Spiel erlebte in der ersten Viertelstunde nach Halbzeit nochmal einen Höhepunkt. Es war vorallem van der Vaart der nun ein kleines Feuerwerk an Distanzschüßen, Fallrückziehern und Schiedsrichterbeschimpfungen abbrannte. Leverkusen wartete auch nochmal mit 1-2 sehr guten Chancen auf, aber dann wurde das Spiel zahmer.

Auf Hamburger Seite ließen die Kräfte nach. Van der Vaart war nach seiner Verletzungspause in den roten Bereich reingerannt, Sanogo zollte den weiten Laufwegen der ersten Halbzeit Tribut, Atouba zeigte eine Mischung aus konditionellen Problemen und Verunsicherungen, weswegen er zum Problemfall in der Abwehr wurde. Ähnlich bei Leverkusen, wo Bernd Schneider sich wieder einige Bonusmeilen für seine Miles&More-Karte errannte, aber dessen Akku leer lief. Das erklärt warum Leverkusen das Wackeln von Atouba nicht stärker ausnutzen konnte.

Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Ich glaube dass Leverkusens Trainer Skibbe die Partie aus der Hand gegeben hatte. Zu einem Zeitpunkt als die Hamburger in der Abwehr wackelten und vorne kaum noch eine Gefahr darstellten, weil sie sich auf lange Schläge auf den entkräfteten Sanogo verließen, nahm Skibbe Fahrt aus der Partie und wechselte defensiv ein, statt dem HSV den Todesstoß zu versetzen. In der Abwehr, die funktionierte, stellte er um. Von Dreierkette auf Viererkette und später wurde Innenverteidiger Madouni ausgewechselt.

Zeitgleich mit Madouni wechselte Thomas Doll Paolo Guerrero ein (68te). In der Kneipe witzelte jemand “Guerrero macht zwei Tore und wir gewinnen 2:1”. Das Gelächter war groß, sein Sitznachbar versprach ihm für diesen Fall sechs Hefeweizen auszugeben. Drei Minuten später 1:1 durch Guerrero. Flanke, Tor, so einfach kann Fußball sein.

Mit Guerrero kam teilweise wieder Tempo ins Hamburger Spiel und dieses Tempo war Gift für die Leverkusener. Die Hamburger wie beseelt, mit dem größeren Willen, während die Leverkusener Pomadigkeit mit “ruhig nach Hause schaukeln” verwechselten. Guerrero fast schon folgerichtig mit dem Siegtreffer in der 86ten Minute: 2:1 für den HSV.

Thomas Doll versucht Ruhe und Selbstvertrauen auszustrahlen, Statements sollen Lässigkeit ausdrücken. Aber die Bilder in der Schlußminute zeigen einen anderen Thomas Doll. Einer der nach vorne gelehnt auf seinem Sitz kauert, die Hände wie zu einem Gebet gefaltet hat und nicht auf das Spiel schaut, sondern leer vor sich hin starrt und in die Hände spricht.

Der HSV gewinnt das Spiel verdientermaßen, weil er über die 90 Minuten mehr investiert hat. Nach dem Schlußpfiff bricht in der Kneipe und auf dem Rasen die Ekstase aus. Die Spieler schmeißen ihre Trikots ins Publikum, in der Kneipe hat sich vor den geöffneten Fenstern längst eine Menschentraube versammelt und der eine Typ verzichtet auf seine sechs Hefeweizen, wird aber gefeiert.

Die Mannschaftsteile

Die Innenverteidigung sah in einigen Situationen bei hohen Bällen nicht gut aus, aber die Probleme resultierten meistens aus Situationen in denen Leverkusen zu ungestört agieren konnte.

Das tiefere Problem der Defensive ist derzeit, dass sich Abwehr und Mittelfeld immer wieder zu tief reindrücken lassen, plötzlich eine 7er-Kette an der Strafraumgrenze bilden und alle Zuordnung und Stellungsspiel perdu ist. Da der HSV dann sich nur noch mit langen Schlägen befreien kann, sind das auch die Phasen in denen auch der Sturm kein Land sieht und die Bälle schneller verloren gehen, als die HSV-Spieler aufrücken können.

Von diesem Problem muss man ausdrücklich Benny Feilhaber ausnehmen, dem man seine Unerfahrenheit kaum anmerkte, der überall zu Stelle war und das wohltemperierte Tackling verstand.

Atouba ist ein Sorgenkind. Einerseits ist er enorm wichtig für den Spielaufbau, war gestern Hauptanspielstation mit 69 Ballkontakten. Auf der anderen Seite ist er der schlampigste aller Schlampen und produziert irrsinnig viele Fehlpässe.

Van der Vaart hat 75 Minuten gespielt, war in der ersten Halbzeit nicht zu sehen, aber eröffnete mit flotten 15 Minuten die 2te Halbzeit. Mehr kann man nach 2 Monaten ohne Spielpraxis nicht verlangen.

Mich würde interessieren, mit was für eine Marschroute Sorin von Doll ins Spiel geschickt wird. Ich habe das Gefühl: mit gar keiner, sondern “du hast genügend Erfahrung, sieh selber zu, wo du gebraucht wirst“. Der Mann rotiert binnen zehn Minuten locker alle Positionen durch: von zurückhängender, zentraler Spitze mit Sanogo und Ljuboja/Guerero als Flügelstürmer, über linken Mittelfeldspieler, als zweite “Nummer Sechs” bis hin zum klassischen linken Abwehrspieler. Bemühen ist nicht nur vorhanden, sondern großartig, aber er wirkt noch nicht eingebunden.

Sanogo und Ljuboja sind ein spielerisch starkes Stürmerduo, dass sich aber derzeit nicht mehr so findet, wie es noch in den allerersten Spielen der Fall war. Sanogo bekommt zwar langsam den Ruf als Chancentod weg, ist aber nicht nur noch der erfolgreichste Hamburger Torschütze, sondern auch für den Spielaufbau unheimlich wichtig, da er wie einst Koller beim BVB, unheimlich gut den Ball annehmen kann. Irgendwie anspielen, Sanogo kann den Ball annehmen und in auf nachrückende Spieler ablegen.

Der HSV hat jetzt erst einmal den Fallschirm gezogen. Die nächsten zwei Spiele werden zeigen, wo es für den Rest der Saison geht. Es sind zwei Nordderbys gegen Hannover und Wolfsburg. Beides traditionell kitzelige Spiele. Das Spiel in Leverkusen hat einiges dafür getan, dass es aufwärts gehen kann. Die Abwehr fängt an sich zu konsolidieren. Van der Vaart kann wieder spielen. Das Mittelfeld zeigt in seiner jetzigen Formation zumindest solides Potential. Die Spieler haben durch ihren Einsatz alle gezeigt, dass Doll seine Spieler offensichtlich noch erreicht, wovon man nach dem 1:4 in Porto nicht automatisch ausgehen konnte.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp