Überraschendes Einvernehmen: Sammer gefeuert

Selten gab es derart überraschendes beidseitiges Einvernehmen wie jetzt bei der Vertragsauflösung des VfB Stuttgarts mit Matthias Sammer.

Die Agenturmeldungen zitieren den Präsidenten Erwin Staudt:

Wir hatten nach der unbefriedigend verlaufenen Saison das Gefühl, klar Schiff machen zu müssen. Wir wollen einen Neustart […]
Wir wollten nicht das Risiko eingehen, dass im Falle eines schlechten Starts in die neue Spielzeit gleich der Druck auf alle Beteiligten wieder wächst

Bei solchen Aussagen kann man davon ausgehen, das “gegenseitiges Einvernehmen” meint: “Sammer ist entlassen, aber wir sind ihm nicht böse”.

Nicht die Entlassung überrascht, sondern der Zeitpunkt und die Konsequenz die der VfB Stuttgart gezogen hat. Denn dass es seit Wochen vor dem Bundesliga-Finale in Stuttgart rumort, ist allzu offensichtlich geworden. Überall züngelten kleine Flammen. Diverse Spieler mussten gedeckelt werden: Hildebrandt, Kuranyi, Hleb. Sogar Aufsichtsratvorsitzender Hundt lehnte sich öffentlich weit aus dem Fenster. Die Analyse die Hundt in Zeitungen von sich gab, waren erstaunlich detailliert und damit weitaus ernster als das was profilneurotiker ansonsten bei passender Gelegenheit in die Medien blasen.

Stefan Herrmanns schrieb vor Wochen im Tagesspiegel, dass der Verfallsprozeß von Sammers Autorität in Stuttgart im wesentlich höheren Tempo voranschreitet als in Dortmund und bereits jetzt Züge aus der Endphase in Dortmund angenommen hätte.

Sammer wird schon länger vorgeworfen, dass bei seinem Team keine Handschrift zu erkennen sei. Man könnte auch sagen, dass es gerade Sammers Handschrift ist, dass keine Handschrift zu erkennen ist.

Offensichtlich aber ist Sammer in der Lage, aus einer Mannschaft mehr herauszuholen, als in ihr steckt. Allerdings gelingt ihm das nur über einen begrenzten Zeitraum, und die Entwicklung, die der BVB unter ihm in drei Jahren genommen hat, erlebt er nun in Stuttgart innerhalb von drei Monaten. Es ist noch nicht lange her, dass der VfB – gerade wegen Sammer und der Erfahrung von 2002 – als aussichtsreichster Konkurrent der Bayern im Kampf um die Meisterschaft galt. Jetzt sieht es eher so aus, als würde sich für Sammer 2003 wiederholen. Da musste der BVB am letzten Spieltag nur sein Heimspiel gegen den Absteiger Cottbus gewinnen, um sich direkt für die Champions League zu qualifizieren – und spielte 1:1. Es war der Anfang vom Ende des Meistertrainers Sammer in Dortmund.

Ich zitiere Oliver Trust aus der FR von vor 11 Tagen:

Hinter den Kulissen wird, nicht erst seit dem Wochenende, über Sammers Trainingsprogramm diskutiert, das manchem zu lasch und nicht umfangreich genug erscheint. Es wird darüber gesprochen, dass es Sammer nicht gelang, Jungstars wie Alexander Hleb, Kevin Kuranyi, Timo Hildebrand und Fernando Meira, die sich unter tatkräftiger Mithilfe ihrer Berater als egoistische “Ich-AG’s” hervortaten, nachhaltig zu bändigen. Es war ein Prozess, der sich seit langem andeutete und Diskussionsansätze über mögliche Alternativen zu Sammer erklärt. Einer der Kandidaten, ein Schwabe, Uwe Rapolder, aber hat woanders unterschrieben, und der zweite, der ehemalige Spieler Ottmar Hitzfeld, will seine Arbeitspause erst einmal fortsetzen. Zudem sieht die Stuttgarter Vereinsführung noch genug Anhaltspunkte dafür, mit dem bisherigen Trainer die Wende zu schaffen. Deshalb wird der 37 Jahre alte Sammer eine zweite Chance bekommen.

Die Macher in Stuttgart aber haben auch erkannt, dass der neue Versuch mit Sammer, dessen Verhältnis zu einem Teil der Mannschaft als äußerst schwierig gilt, nur Aussicht auf Erfolg hat, wenn ein grundlegender Wechsel beim Personal gelingt. Vor allem den Weißrussen Hleb wollen die Schwaben möglichst schnell loswerden. Arsenal London hat mehrmals Interesse bekundet. Aber auch Meira, ja selbst Kuranyi steht zur Disposition. Für die Umstrukturierung des Kaders brauchen die Schwaben Geld. Im Uefa-Cup aber lässt sich kaum etwas verdienen, nur die Champions League hätte die nötigen Millionen in die Kasse gespült.

“Oben”, sagte Erwin Staudt deshalb dann doch noch, bevor er endgültig ging, “sitzt unser Finanzchef Ulrich Ruf und weint dicke Krokodilstränen.” Nun müssen die Schwaben auf Angebote für ihre namhaften Verkaufsobjekte warten, sonst könnte der Frust noch viel schlimmer und die Tränen noch dicker werden.

Einen Tag später schreibt dpa über den Aufsichtsratsvorsitzenden Hundt:

Der Aufsichtsratsvorsitzende des VfB Stuttgart, Dieter Hundt, forderte nach dem enttäuschenden Saisonfinale Konsequenzen. “Präsident und Vorstand sind jetzt gefordert und müssen handeln”, sagte Hundt in einem Interview der Stuttgarter Zeitung. “Meine persönliche Meinung ist auf jeden Fall, dass jetzt alles auf den Tisch und einschränkungslos über alles geredet werden muss.” Auf Nachfrage, ob dies auch den Trainer Matthias Sammer betreffe, antwortete Hundt: “Über alles.” […]

Aufsichtsratschef Hundt jedoch warf Sammer indirekt vor, sich nicht genügend um junge Spieler aus der zweiten Reihe gekümmert zu haben: “Wir haben in diesem Jahr auch keinen Spieler aus dem eigenen Nachwuchs an die Mannschaft herangebracht, auch das ist ein Thema, über das wir uns eingehend unterhalten müssen.”

Hundt bestätigte, dass die einstige Harmonie im Team der Vergangenheit angehört. “Aus Kreisen der Mannschaft ist auch zu hören, dass einiges in Unordnung geraten ist und es in der Mannschaft nicht mehr stimmt”, berichtete der 66-Jährige. “Darüber muss jetzt geredet werden, das muss auf den Tisch – ohne Wenn und Aber. In den letzten Wochen sind geradezu Zerfallserscheinungen festzustellen gewesen.”

Der Sprengstoff war da und die Lunte gelegt. Daß aber so schnell zum Feuerzeug gegriffen wurde, überrascht und macht die Ausmaße deutlich entweder von Sammers Problemen oder von Stuttgarts finanzieller Situation, die sich für die Entlassung von Sammer entschieden statt 3, 4 Schlüsselspieler zu verkaufen.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp