Zeilensport: Gegenentwürfe

Mein Arbeitspensum pegelt sich langsam wieder auf normale Maße ein, ich komme u.a. dazu alte eMails und Newsletter durchzulesen, u.a. die Inhaltsverzeichnisse der ZEIT.

In der ZEIT 40/04 versuchte sich Christoph Biermann an einer Beschreibung des Phänomen “FSV Mainz 05” und zieht Parallelen zum Aufstieg und Etablierung des SC Freiburg: “Meins!

Das Mainz-Fieber jedoch ist anders. Fußball ist heute längst keiner gesellschaftlichen Gruppe mehr peinlich, ganz im Gegenteil. Eher schon dient das Spiel manchem Beobachter als Seismograf dafür, was im Lande vorgeht. Hieß es nicht auch beim Fußball: Krise? Im internationalen Vergleich Anschluss verloren? Keine Innovation und Stagnation? Jürgen Klopp hingegen, der Trainer ohne Trainerschein, verbreitet eine Atmosphäre von Dynamik und Aufbruch, wenn er mit spürbarer Lust und Leidenschaft über Lust und Leidenschaft spricht. Außerdem spielen seine Mainzer Fußball nach einem klaren Konzept, dass zugleich wohlgeordnet sowie wild, physisch und dem englischen Fußball nachempfunden ist. Es paaren sich kalter Verstand und heißes Herz, wenn Klopp seine Mainzer auf den Platz schickt.

Timo Hildebrand

Apropos Gegenentwurf. Drei Wochen später gab es in der ZEIT ein Interview von Henning Sussebach mit “unserer Nummer Drei”, dem VfB-Torwart Timo Hildebrand: “Ich knirsche nachts mit den Zähnen“. Hildebrand zeigt Intelligenz weil er nicht nur gute Antworten gibt, sondern sich auch der “Meta-Ebene” der Interview-Situation bewusst ist: dass das Interview nach Abdruck von den Journalisten auf Material abgeklopft wird, um einen Zoff zwischen Hildebrand und Kahn herbeizuschreiben.

Hildebrand bewältigt die Aufgabe mit Bravour. Er positioniert sich als Gegenentwurf zu Kahn, ohne ausfällig oder beleidigend zu werden.

Vielleicht spiegele ich mich in ihm. Ich fürchte, er macht mir unfreiwillig bewusst, was passieren kann bei Dauerdruck. Vielleicht kann ich mich seinetwegen umso besser davor schützen.

Ich halte das Rennen um den Startplatz im Nationaltorwarts-Kasten bei der WM 2006 für ergebnisoffen. Ich glaube nach Klinsmanns Vorstellungen ist ein Typ wie Hildebrand die Blaupause für den idealen Nationalspieler. Ehrgeizig, angenehm auftretend, präsentabel. Vielleicht wartet Klinsmann nur auf den finalen Zoff zwischen Kahn und Lehmann, um beide loszuwerden und dann den lachenden Dritten zu nehmen.

Das durchaus integre Interview bewahrte Hildebrand übrigens nicht davor, auch abgemahnt zu werden. Das Interview geschah zu einem Zeitpunkt als Lehmann und Kahn sich mal wieder die Kante gaben, und Bierhoff/Klinsmann mussten der Neutralität willen, jegliche auch nur andeutungsweise kritische Bemerkung gegen einen Konkurrenten abmahnen.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Es wäre sehr interessant, was Herr Christoph Biermann wohl über die Mainzer schreibt, wenn sie am Ende der Saison den 10. Platz belegen. Oder gar absteigen? Sind sie dann auch noch Vorbild, wenn irgendwann der Trainer fliegt? Mainz hat frischen Wind in die dröge Liga gebracht. Das ist toll! Hoffen wir, das es möglichst noch lange anhält! Hach, was war die Welt vom SSV Ulm verzaubert, und von seinem jungen, Ideen sprühenden Trainer Rangnick…

  3. In Biermanns Artikel wird die Vergänglichkeit des Zaubers ziemlich deutlich ausgedrückt (Hervorhebungen von mir).

    Vielleicht erübrigt sich die Suche danach auch bald, wenn die Siege ausbleiben und der Zauber der Neuigkeit verflogen sein sollte. Vielleicht gibt es in der Politik auch niemanden, der so glaubhaft zum Aufbruch ruft. Dass ein Ruck durchs Land gehen muss, hört man schließlich zumeist von Leuten, die an Positionen hocken, wo schon lange nicht mehr geruckt wurde. Deshalb trifft die kollektive Sehnsucht nach dem Ruck, der durchs Land gehen soll, auf den instinktiven Widerstand dagegen, auf Kosten anderer geruckt zu werden. Vielleicht macht also genau das den momentanen Reiz von Mainz 05 aus: Klopp und seine Jungs verbreiten den Eindruck, sie selbst seien der Ruck.