Kampf der Schwachen

Wenn man mich nach meinem Gelb-Trikots-Tipp für die Tour 2004 fragt, kann ich nicht mehr als nur müde mit den Achseln zucken. Nicht weil ich dieses Jahr keine Weltcup-Rennen gesehen habe. Die TdF hat sich längt völlig vom restlichen Radsport-Zirkus losgekoppelt, die Aussagefähigkeit eines Sieges des Giros oder der Tour de Suisse ist für das Gelbe Trikots gleich Null.

Daher ist die aktuelle Form der Spitzenfahrer völlig unbekannt und wird erst im Laufe der Tour ausgetestet werden.

Lance Armstrong

Der Tour-Sieg wird auf jeden Fall via Lance Armstrong entschieden. Armstrong wird nur verlieren, wenn er schwach ist. Ansonsten ist er in den entscheidenden Punkten stärker als seine Konkurrenz.

Es wird eine schwache Vorbereitung von Armstrong kolportiert. Aber Armstrong hat die Konzentration auf dieses eine Radsportereignis im Jahr, unter Vernachlässigung aller anderen Rennen, zur Perfektion gebracht. Es gibt kein anderer Fahrer der derart in der Lage ist zu pokern und einen schwachen Leistungsstand vorzuheucheln umd dann in dem richtigen Moment anzutreten.

Nein, wenn ich Bedenken wegen Armstrong habe, dann ist es wegen der magischen Zahl “Sechs“. Kein Athlet hat vorher sechsmal die Tour gewonnen. Und das hat seine Gründe. Sechs Jahre lang in Extremis eine derartige Tortur an vorderster Stelle zu bestehen? Daran scheiterten Hinault, Merckx, Anquetil oder Indurain.

Und doch: Armstrong könnte es schaffen. Die letzten Jahre waren keine Rennen die den Spitzenreiter während der gesamten Tour forderten. Stattdessen lief alles auf ein Showdown auf 1-2 Etappen hinaus. Die Hinaults und Indurains wurden in den Bergen mehr gefordert, weil Kolumbianer permanent mit 20 Minuten Vorsprung ins Ziel zu kommen drohten und weil sie Gegenspieler von gleicher Statur hatten.

Es gibt auch nicht viele ernstzunehmende Konkurrenten (ich komme nur auf zwei). Die Ausgangsposition eines Armstrongs ist also besser als die jedes anderen fünffach Champions.

Jan Ullrich

Seine Karriere ist ein Auf und Ab. Seine Entscheidung 2003 für Team Bianchi zu fahren, schien ein Bruch von seinem vorigen Leben darzustellen, nach der Doping-Affäre eine Katharsis, eine Emanzipation von der kleinen, kuscheligen Welt des gehätschelten Stars.

Doch dann der Sprung rückwärts. Nun fährt er wieder für Team Telekom. Auguren bescheinigen ihm ein Rückfall in vergangene Zeiten. Übergewichtig, trainingsfaul, außer Form. Aber die Tour de Suisse gewonnen!

Also ganz große Fragezeichen was die physischeund mentale Form von Jan Ullrich angeht.

Ihm könnte zugute kommen, dass die vermutlich wichtigste Etappe ein 15km langes Zeitfahren auf den Gipfel des L’Alpe d’Huez ist. Er entgeht so der direkten Konfrontation mit dem Meisterpsychologen Armstrong und kann sein eigenes Tempo fahren, statt sich von den schnellen, kurzen Antritten eines Armstrongs zermürben zu lassen.

Was gegen Ullrich spricht, ist die Mannschaft. Ullrich ist nicht der autoritäre Teamkapitän und die Mannschaft hat viele “Freigeister” die sich nicht leicht einem Teamkapitän unterordnen lassen, namentlich Vinokourov, der ein wichtiger Helfer in den Bergen sein könnte, aber auch immer seine eigenen Pläne verfolgt und dazu ein Zabel, den man auf Flachetappen vorne positionieren will, was in der Fokussierung auf das Ziel “Gelb” Kraft und Konzentration kostet.

Es spricht nicht viel für Ullrich. Er kann nur gewinnen, wenn Armstrong schwächelt.

Tyler Hamilton

Wer weiß wo Tyler Hamilton jetzt im Radsport wäre, wenn er sich nicht permanent bei großen Rundfahrten aufs Maul packen würde, letztes Jahr ein Schlüsselbeinbruch.

Hamilton ist gleich alt wie Armstrong und war einst wackerer Helfer Number One vom Amerikaner, ehe er sich von ihm emanzipierte und einige böse Worte übrig hatte.

Hamilton ist der einzige der in Sachen psychologische Kampfführung und Siegesmentalität mit Armstrong mithalten kann, weswegen ich seine Chancen Armstrong abzulösen, für prinzipiell besser halte, als die von Ullrich.

Ein großes Fragezeichen steckt aber hinter der Mannschaft, der Schweizer Hörgerätehersteller Phonak hat sich mit Hamilton gleichzeitig den Platz in der Tour eingekauft. Es sind starke, erfahrene Kletterer dabei: Carmenzind, Sevilla, Alex Zülle und Gutierrez. Aber, zu dumm, dieses Jahr gibt es nur drei Bergetappen und eines davon ist ein Zeitfahren.

Hamilton kann die Überraschung der Tour werden.

Alexandre Vinokourov

Er ist die große Unbekannte, ein “Freigeist”, der mit einem Ausreißversuch alle überraschen kann. So klar der Favorit Armstrong für mich ist, so anfällig ist die diesjährige Tour für eine Überraschung, weil jedermann die Entscheidung nur auf ein oder zwei Etappen suchen wird. In dieser Konstellation kann eine unerwartete Attacke, ein Ausreißversuch an unerwartete Stelle das Gesamtklassement und sämtliche zurechtgelegten PLanungen übern Haufen werfen.

Auch wenn er kein Kletterspezialist ist, hat er letztes Jahr gezeigt, dass er davon profitieren kann, dass sich die Großen Drei gegenseitig beäugen.

Der Rest

Mit derart kletterstarken Allroundern ist die Tour keine Rundfahrt mehr, die von einer “Bergziege” gewonnen werden kann. Dazu sind die Zeitfahren zu wichtig geworden. Das spricht gegen Leute eines Schlages von Mayo, Exteberria oder Heras.

Reaktionen

  1. Wo kann man Kommentare eingeben?

    Nach elf Jahren habe ich die Kommentare im Blog mangels Zeit für Kommentarverwaltung geschlossen. Es kann noch kommentiert werden. Es ist aber etwas umständlicher geworden.

    1. Das Kommentarblog http://allesausseraas.de/, aufgezogen von den Lesern @sternburgexport und @jimmi2times
    2. Sogenannte „Webmentions“ mit einem eigenen Blog. Siehe IndieWebCamp
  2. Hmm, kann mich täuschen, aber fällt Winokurov nicht verletzt aus? Ansonsten: Chapeau. Sehr gute Vorberichterstattung. Schön auch, dass EM und Tour so nahtlos ineinander übergehen. Keine Gefahr, in ein Sportloch zu fallenÂ…

    Zum Thema Watteroot: was mir unendlich auf den Sack geht, ist sein ewiges »diese radsportverückte Gegend«, »ein radsportverrücktes Örtchen« oder auch »er kommt aus einer radsportverrückten Familie«. Über manch anderes kann ich hinwegsehen, aber das ist abolut grauenhaft.

    Habe das nicht mitbekommen: ist Jürgen Emig dauerhaft suspendiert?

  3. Danke fürs Lob.

    Vinokourov fällt in der Tat verletzt aus, Ddanke für den Hinweis. Ich habe erst heute/Sonntag morgen mir die finalen “Mannschaftsaufstellungen” angesehen.

    Emig ist vor zirka 1-2 Wochen vom Amt des HR-Sportchefs zurückgetreten, eben wegen jener Geschichte dass er arg eng mit der Sponsoring-Agentur seiner Frau zusammengearbeitet haben soll. So hat beispielsweise der HR bei einem Eishockey-Bericht arg lang von einem Sponsorenspiel berichtet, welches zufällig von Emigs Frau organisiert wurde.

    Zudem verlangte der HR von SPortvereinen Geld für Übertragungen.

    So wie es aussieht, dürfte Emig damit endgültig weg vom öffentlich-rechtlichen Schirm sein.